Von Jürgen Schön
Die Erde ist eine Scheibe. Die dreht sich, wer auf ihr geht, kommt nicht vom Fleck. Ideal auch, um sich darauf auszuruhen. Die Erde ist ein großes Quadrat. Abgedeckt mit Torf, das dämpft den Fall. Wer hier lebt, lebt in einer eigenen Welt, in die Veränderungen nur zaghaft eindringen. Man tanzt auf dem Vulkan – wenn auch nicht ekstatisch, sondern entrückt und verspielt. Man ahnt die Gefahr und verweigert sich ihr.
Diesen Untergang einer Epoche beobachtet Anton Tschechow in seiner grotesken Komödie „Der Kirchgarten“. Jetzt hatte Karin Henkel das Stück im Kölner Schauspiel inszeniert – ein großer Theaterabend mit hochverdientem Premierenbeifall.
Eine Adelssippe mit Gefolge versammelt sich am Familiensitz. Sogar aus Paris sind sie angereist. Geldnot drückt, der weit berühmte Kirschgarten soll zwangsversteigert werden. Doch statt auf den Vorschlag einzugehen, das Grundstück zu parzellieren und darauf Sommerhäuschen für Großstädter zu bauen, wird nicht eingegangen. Stattdessen vertändelt man sich, fabuliert über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, tratscht über die Familie, pflegt seine Marotten, stolpert durch die Gegend, trinkt und philosophiert, träumt und verschwendet das letzte Geld.
Elf Schauspielerinnen und Schauspieler erwecken als perfekt eingespieltes Ensemble ihre Figuren zum Leben, sensibel und variationsreich, zwischen Komik, Tragik und Wehmut, Karikatur und Realismus schwankend. Tiefe Trauer trägt keiner. Auch das Publikum muss keine Trauer tragen. Es wird immer wieder durch köstliche Slapstick-Einlagen bei Laune gehalten. Am grandiosesten durch Brigitte Cuvelier (sie sei ausnahmsweise namentlich hervorgehoben), die sich als wahrhaft Gummimensch-Akrobatin erweist.
Es ist eine an Symbolen reiche Inszenierung, die alle nicht mit pädagogisch erhobenem zeigefinger daherkommen. Da ist der schon lange abgeholzte Kirschgarten. Da ist die karge Bühnenausstattung, die sich am Ende in eine glitzernde, alles erschlagende Vergnügungsmeile verwandelt. Die Bewegungen der Menschen, die stürmisch beginnen und abrupt enden, ohne ihr eigentliches Ziel zu finden. Ihr Stolpern, das auch im Zuschauerraum enden kann. Die Idylle am gemeinsamen Tisch, der plötzlich zusammenbricht. Wer will, kann auch Bezüge zur Gegenwart ziehen, zum Verhältnis der Industrieländer zur sogenannten Dritten Welt, wenn es ausgerechnet der Sohn eines ehemaligen Leibeigenen ist, der den Ausweg aus der Finanzmisere zeigt – und das Feriendorf schließlich selber baut.
Der Gutsbesitzer jedenfalls entschließt sich am Ende, ein neues Leben als Bankangestellter anzufangen. Wenn das mal gut geht...
„Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow – weitere Termine: 21., 25., 26. und 30.1. sowie 5.2., jeweils 19.30 Uhr, Schauspielhaus, Offenbachplatz, 50667 Köln, Karten: Kartenservice im Opernhaus, Offenbachplatz, 50677 Köln, Mo-Fr 10-18.30 Uhr, Sa 11-18.30 Uhr, Tel. 0221 / 22 12 84 00, tickets@buehnenkoeln.de, www.schauspielkoeln.de